
Wieder so eine Geschichte, die aufgeschrieben werden muss, die zu schade wäre, um vergessen zu werden. Gehe ich also gestern endlich mal vor die Tür, nicht so einfach um die Ecke, sondern nach Berlin-Neukölln. Das ist sozusagen das Paralleluniversum zum Wedding: Das Gleiche noch mal auf der anderen Seite der Stadt, aber mit noch mehr Dönerbuden, Handyshops und Hippster-Bars. Und es gibt den Heimathafen – eine Hinterhof-Bühne in einem prächtigen Gründerzeit-Saal, die etwas im Programm hat, was ich bei mir im Kiez vermisse: Türkischen Pop. Ernsthaft.
Als ich vor fast dreißig Jahren in Berlin ankam kriegte ich eine Kassette mit türkischen Popsongs in die Hand. Leierte ich dann von hinten nach vorn. Treibender Rhythmus, traurige Stimmen, passte zur Stadt. Tarkans „Kiss Kiss“ wurde dann später zum Hit, zumindest im „Radio Multkiulti“ vom rbb, das inzwischen eingestellt wurde, wie auch das politische Projekt gleichen Namens. De Film „Crossing the Bridge“ von Fathi Akim über die aktuelle türkische Musikszene hat mich dann nach Istanbul gebracht. Viel später kamen dann „Songs of Gastarbeiter“ und der Film „Liebe, D-Mark und Tod“, über die Musik der Gastarbeitergeneration. So, das muss man also wissen, um zu verstehen, warum ich einmal durch die Stadt gereist bin, um bei „Gasino Nights“ dabei zu sein, die mir eine Show mit deutschen und türkischen Schlagern der 90er versprachen. Vielleicht hab ich auch das, was meine Tochter FOMO nennen würde (Fear of missing out), Angst was zu verpassen, vielleicht wollte ich auch einfach mal raus und was anderes sehen. Immerhin ist es Sommer, auch wenn´s sich nicht so anfühlt.
Sitze ich also da, möglichst weit weg von der Bühne und der Band und alleine am Tisch, denn wenn ich etwas nicht mag, dann ist es von Entertainern zum Mitmachen animiert zu werden. Hat aber nix genützt. Nach ein paar netten Stücken von türkischen Interpreten wurde ein Saal-Quiz ausgerufen. Gehört anscheinend dazu zu einem Gazino. Filmmusik aus den 90ern erraten, die von der Band gespielt wird. Beim ersten kam ich noch mit (Pretty Woman) bei den weiteren verlor ich das Interesse und beim dritten merke ich plötzlich den grellen Saalscheinwerfer auf mich gedreht. Die Musik ist aus, der Saal verstummt und gefühlt alle Augen sind auf mich gerichtet. Hab ich die Hand gehoben? Ich hab doch gar nicht zugehört. Geblendet schmerzt mich das erwartungsvolle Schweigen aus ungezählten Mündern. Ich bin schuld dass der Abend versaut wird und ich bin verloren, ganz klar. Aber wir sind nicht im engen Prag Franz Kafkas, wir sind im quirligsten Teil von Berlin – der Stadt in der alles möglich ist. Und so wundert es mich gar nicht, dass so plötzlich, wie das Licht erschien, jetzt dieses Wesen neben mir auftaucht und „Palp Fickschn…“ flüstert. „Pulp Fiction!“, rufe ich in den Saal und ein Jubel erhebt sich. Eine bezaubernde Assistentin in glitzerndem Frack schwebt auf mich zu und überreicht mir, mit natürlich bezauberndem Lächeln eine Flasche Sekt. Ich bin der Gewinner des Abends! Das Licht geht aus und die Show geht weiter. We can be Heroes just for a day. Aber wir sind hier immer noch in Berlin-Neukölln. Hier gibt es nichts geschenkt. Das hätte ich wissen müssen. Hier gilt das Gesetz der Straße. Geben und Nehmen. Und besser Nehmen als Geben „Also ehrlich jesacht“, kommt es jetzt von rechts, „ist dit ja mein Schampus“. Das Wesen, das mir der Himmel geschickt hatte, war nicht in der Dunkelheit verschwunden, die mich jetzt wieder schützend umgibt. Und ich bin mir jetzt auch nicht mehr sicher, ob es wirklich vom Himmel kam. Ich hab im Dunkeln noch nie gut sehen können, aber ich vermute, dass es eine Frau ist, nicht besonders groß, Pferdeschwanz, die mich jetzt von der Seite anmacht. „Ick meine, ick hab mich neben sie jesetzt, weil wa heute Ahmd keen Jeld hatten, um uns was zu trinken ze koofen.“, kommt es mit Reibeisenstimme aus dem Off. „Und da dachten wir, ich jeh ihn ma een bisschen unta die Arme.“ „Und so ne Flasche Sekt wäre schon nett. Meine Freundin und ich sitzn da drübn am Tisch, wenn´s ihnen nix ausmacht.“ Einen Augenblick stutze ich: Geht das nicht eigentlich umgekehrt? Zuerst setzt sich die Animierdame an den Tisch und dann bestellt der Gast den Sekt? Aber da hat mein resoluter guter Geist schon drei Gläser besorgt, mich an den Tisch gelotst und ihre Freundin vorgestellt. Höchste Zeit die Bremse zu ziehen. „Ich trinke gar keinen Sekt.“, sag ich sauertöpfisch. “ Echt nich? Was trinken se denn? „Bier ist mir lieber“. Na wissene se wat, dann koof ick ihnen een Bier. Zu dritt is so ne Flasche eh n bisschen klein.“ Sagt’s und kommt mit einem Glas Frischgezapftem wieder. Doch ein guter Geist. Und was soll ich sagen? Es wurde noch ein richtig netter Abend. Natürlich kriege ich von den beiden beschwippsten Freundinnen mal im Duett, mal im Wechselgesang wie es nur beste Freundinnen hinbekommen, bald das ganze Leben meiner Wohltäterin erzählt, die, wie alle in Berlin, irgendwas mit Kunst, Selbsterfahrung und langen Reisen gemacht hatte. Ich weiß zwar nicht mehr genau, warum wir dann später am Tisch der Frauengruppe aus Marzahn landeten, aber ich weiß noch ganz genau, dass die türkische Trans-Frau, die als Höhepunkt der Show auftrat, das schönste Lächeln hatte und den besten Bauchtanz hinlegte, den ich je gesehen habe.